Stärkung des Notwehrrechts – Zur Erforderlichkeit der Notwehrhandlung (Beschluss des BGH vom 04.08.2022, Az. 5 StR 175/22)
Es ist ein grundlegendes Prinzip im deutschen Strafrecht: Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen. Derjenige, welcher seinen Angreifer verletzt oder ihm sogar tödliche Verletzungen zufügt, sieht sich gleichwohl zwangsläufig eines gegen ihn gerichteten Strafverfahrens ausgesetzt. Dabei besteht üblicherweise auf der sog. Tatbestandsebene kein ernster Zweifel daran, dass die schädigenden Handlungen von dem Beschuldigten ausgeführt wurden; entscheidend (und regelmäßig durch umfangreiche Beweisaufnahmen und punktgenaue Verteidigertätigkeit aufzuklären) ist demgegenüber die Frage, ob die Tathandlung gemäß § 32 Abs. 1 StGB durch Notwehr gerechtfertigt ist. Gerichte neigen gerade bei schweren Verletzungsfolgen bisweilen dazu, die Erforderlichkeit der Notwehrhandlung mit dem Argument zu verneinen, dass dem sich Wehrenden ein milderes Mittel wie beispielsweise Flucht zur Verfügung gestanden habe. Dahinter steht der Gedanke, dass der Angegriffene nicht zur Trutzwehr übergehen muss, wenn die Ausübung von Schutzwehr die Gefahrenlage bereits eliminiert hätte.
Zu Gunsten des Angegriffenen hat der BGH nunmehr – flankiert durch weitere Entscheidungen, welche das Recht zur Notwehr stärken, vgl. etwa BGH, Beschluss v. 24.11.201, Az. 2 StR 337/21 – unmissverständlich betont, dass sich der Angegriffene regelmäßig in einer Ausnahmesituation befindet und dass bei der Bewertung, ob aus seiner Sicht die Anwendung „milderer“ Gewalt ausgereicht hätte, strenge Maßstäbe anzusetzen sind. Entscheidend ist insoweit alleine, ob auch in der zugespitzten Angriffssituation gewährleistet ist, dass der Angriff durch die Notwehrhandlung endgültig abgewehrt wird. Schon dann, wenn aus seiner Sicht auch nur Zweifel dahingehend bestehen durften, dass auch bei milderen Mitteln die Abwehrwirkung ebenso unzweifelhaft ist, bleibt die hierüber hinausgehende Gewaltanwendung gerechtfertigt. Dabei betont der BGH zugleich, dass der Angegriffene eine entsprechende Abwägung nur dann treffen kann, wenn ihm überhaupt genügend Zeit zur Abschätzung der Lage verbleibt. Dies ist – gegebenenfalls in dubio pro reo – allzu häufig nicht anzunehmen.