5. Dezember 2022

Schmerzensgeld: BGH zum Begriff der Primärverletzung

In einer Entscheidung vom 26.07.2022 (VI ZR 58/21) hat der Bundesgerichtshof (BGH) grundlegende Aussagen zu den Begriffen der Primär- und Sekundärverletzung getroffen und sich mit dem zu erfüllenden Beweismaßstab befasst.

In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt hatte die Klägerin/Geschädigte nach einem Verkehrsunfall ein Schmerzensgeld unter Verweis darauf verlangt, dass sie in Form von Nacken- und Kopfschmerzen verletzt worden sei. Entsprechende Beschwerden und sichtbare Befunde hatten vorgelegen. Aufgrund dessen war er bei der Geschädigten eine HWS-Distorsion 2. Grades diagnostiziert worden. Das mit der Beurteilung in der Vorinstanz beschäftigte Landgericht Bielefeld bezweifelte jedoch, dass es sich bei den Nacken- und Kopfschmerzen um eine unfallkausale Primärverletzung handelt. Ein Sachverständiger hatte festgestellt, dass es sehr unwahrscheinlich sei, dass eine Verletzungsmöglichkeit für die Halswirbelsäule der Klägerin bestanden habe. Allerdings wurde mit der Revision auch gar nicht angegriffen, dass sich ein Schmerzensgeldanspruch der Klägerin nicht auf die diagnostizierte HWS-Distorsion 2. Grades stützen ließ. Ansatz für die Revision war vielmehr, die Nacken- und Kopfschmerzen als Körperverletzung und damit Primärverletzung geltend zu machen. Insoweit bestand die Besonderheit, dass eine Freundin der Klägerin bei einem früheren Verkehrsunfall verstorben war und dass die Klägerin darüber hinaus Ersthelferin bei einem anderen Verkehrsunfall gewesen war, bei dem zwei Menschen verstorben sind.

Der BGH stellt klar, dass es sich bei der Primärverletzung um die für die Haftungstatbestände erforderliche Rechtsgutsverletzung handelt. Diese – dem Beweismaßstab des § 286 ZPO unterliegende – Rechtsgutsverletzung enthält keine Elemente der haftungsbegründenden Kausalität. Des Weiteren stellt der BGH klar, dass auch der weitere Prüfungsschritt der haftungsbegründenden Kausalität ebenfalls dem strengen Beweismaß des § 286 ZPO unterliegt. Sekundärverletzungen sind demgegenüber haftungsausfüllende Folgeschäden, die auf eine haftungsbegründende (und unfallkausale) Rechtsgutsverletzung zurückzuführen sind.

Im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität kommt es zunächst auf die äquivalente Kausalität an, ob nämlich der Unfall nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass die in Rede stehende Körperverletzung entfiele. Hinzukommen muss die adäquate Kausalität, die dann vorliegt, wenn es bei einer gebotenen objektiven nachträglichen Prognose weder völlig unwahrscheinlich noch völlig ungewöhnlich ist, dass das Unfallgeschehen bei der verletzten Person zu der in Rede stehenden Körperverletzung führt. Dies war in dem konkreten Fall gegeben, weil es bei einer Geschädigten, die bereits eine Freundin durch einen Verkehrsunfall verloren hatte und Ersthelferin bei einem weiteren Verkehrsunfall gewesen war, bei dem zwei Menschen starben, nicht völlig unwahrscheinlich ist, dass das Unfallgeschehen zu einem psychoreaktiven Zustand führen würde, der sich in starken Kopf- und Nackenschmerzen sowie Übelkeit manifestiert. Schließlich müssen der Schutzzweck der deliktischen Sorgfaltspflichten und der Schutzzweck der Norm erfüllt sein. Die Rechtsgutsverletzung muss also in einem inneren Zusammenhang mit der durch den Schädiger geschaffenen Gefahrenlage stehen, während ein gewissermaßen zufälliger Zusammenhang nicht genügt. Dabei hat der Schädiger auch für psychische Auswirkungen einer Verletzungshandlung haftungsrechtlich einzustehen. Grenzen bilden Fälle der sogenannten Begehrensneurose oder reine Bagatellverletzungen.

Der BGH hat mit seiner Entscheidung den Begriff der Primärverletzung klar konturiert und die Anforderungen an die haftungsbegründende Kausalität dargelegt.